
»Sein Wissen hatte er aus Büchern, und Bücher logen, sie beschönigten die Wahrheit.« (S. 882)
Dieses Zitat taucht gegen Ende des Buches auf und ist mir vor allem deshalb in Erinnerung geblieben, weil es genau das Gegenteil von dem beschreibt, was »Ein wenig Leben« tut. Hier wird nichts beschönigt, nicht im geringsten. Ich muss sagen, dass »Ein wenig Leben« eines der deprimierendsten Bücher ist, das ich je gelesen habe. Wenn nicht sogar das deprimierendste. Keine Ahnung, warum mich das wundert, das Cover gibt schließlich schon einen kleinen optischen Vorgeschmack auf das Leid, das in diesem Buch zum Ausdruck kommt.

Tatsächlich wusste ich im Vorfeld kaum worum es geht, lediglich, dass »Ein wenig Leben« sich um die Freundschaft vierer Männer im Laufe ihres Lebens dreht. Was das Buch einerseits sehr gut und andererseits überhaupt nicht beschreibt. Denn ja, es dreht sich viel um die Freundschaft von Jude, Willem, Malcolm und JB, aber im Mittelpunkt steht eindeutig Jude, der eine der schlimmsten, tragischsten und traurigsten Kindheiten die man sich vorstellen kann erlebt hat. Dementsprechend geprägt davon ist selbstverständlich auch sein Leben als Erwachsener – also macht euch darauf gefasst, dass dieses Buch ein unglaublich hartes Buch ist. Man muss definitiv in der richtigen Stimmung dafür sein, damit es einen nicht allzu sehr gefangen nimmt und runterzieht und ich kann gar nicht zählen wie viele Tränen ich beim oder viel mehr noch nach dem Lesen vergossen habe. Also ja, »Ein wenig Leben« ist keine leichte Kost und beschäftigt sich intensiv mit Missbrauch und den Folgen. Ihr seid also an dieser Stelle gewarnt.

Ich weiß gar nicht so genau wo ich anfangen soll, denn irgendwie fällt es mir sehr schwer über das Buch zu sprechen. Ich kann es gar nicht richtig in Worte fassen. Und obwohl ich »Ein wenig Leben« ursprünglich dem Bauchgefühl nach 4 Sterne geben wollte, habe ich letztendlich doch auf eine Bewertung verzichtet, denn ich denke nicht, dass so ein Bewertungssystem richtig ausdrückt, wie sehr dieses Buch mich hat mitleiden lassen. Und nein, ich übertreibe an dieser Stelle nicht.
Vielmehr frage ich mich im Nachhinein – nachdem ich bereits unendlich viele Tränen vergossen habe und mein Herz für bestimmte Charaktere gebrochen ist – warum ich mir dieses Buch eigentlich angetan habe. Und… naja, es hat schon eine gewisse Sogwirkung? Also, so richtig? Ich rede hier von »Ich kann dieses Buch nicht aus der Hand legen, dabei müsste ich eigentlich schlafen oder hundert andere Dinge tun«-Sogwirkung. Das liegt zum einen daran, dass Hanya Yanagihara einen sehr schönen Schreibstil hat, der sehr angenehm zu lesen ist. Zum anderen besteht »Ein wenig Leben« – trotz, dass es ~950 Seiten hat – aus sehr wenig Kapiteln. Das Buch gliedert sich in neun Abschnitte, die wiederum jeweils nur zwei bis drei Kapitel haben und in den Kapitel selbst werden kaum Absätze gemacht. Dadurch, dass der Lesefluss also teilweise für viele, viele Seiten nicht unterbrochen wird, fiel es mir teilweise wirklich schwer das Buch aus der Hand zu legen.
Zu Anfang war ich mir recht lange gar nicht sicher, in was für eine Richtung diese Geschichte gehen würde, worum genau sie sich dreht, denn es dauerte ein wenig, bis ich an dem Punkt angekommen bin, an dem mir klar wurde, wer wirklich Mittelpunkt dieser Geschichte ist. Zunächst liest man aus den Sichten von allen vier Freunden, bis schließlich hauptsächlich nur noch Jude erzählt und einem klar wird, wie wenig seine Freunde eigentlich über ihn wissen, trotz, dass sie so gut befreundet sind. Es war erschreckend zu lesen wie viel Jude mit sich herumträgt, wie schlecht es ihm teilweise geht und wie wenig er sich helfen lässt. Es war teilweise unfassbar anstrengend in Jedes Kopf zu stecken, denn die Autorin schreibt sehr intensiv und emotional darüber was in Jude in gewissen Situationen vorgeht und seine Reaktionen trieben mir vermehrt die Tränen in die Augen. Was ich jetzt schon mehr als einmal erwähnt habe, ihr habt es also verstanden. Das hier ist ein trauriges Buch. Aber eben auch nicht nur. Und vielleicht ist traurig auch nicht ganz die treffende Bezeichnung. Jedenfalls ist »Ein wenig Leben« nicht rund um die Uhr deprimierend, es gab auch Szenen, die mich fast haben weinen lassen, weil sie schön waren. Zugegeben: Das waren wenige. Aber es gab sie. Ihr merkt also, dieses Buch war die reinste emotionale Achterbahnfahrt für mich und irgendwie bin ich wirklich froh, dass ich es beendet habe, da ich doch gemerkt habe, obwohl ich tagsüber nicht bewusst über das Buch nachgedacht habe, so hat es mir doch nach ein paar Tagen etwas auf’s Gemüt geschlagen.
Ein Aspekt, der mir wiederum richtig gut gefallen hat, war, wie viel Wert in diesem Buch auf Freundschaft und Familie gelegt wurde, gerade auch weil sich diese Beziehungen über Jahrzehnte ziehen und es sehr spannend zu lesen war, welche Stadien sie durchlaufen, welche Beziehungen wachsen und tiefer gehen und welche es schwieriger haben.
Aber auch gerade weil »Ein wenig Leben« aus mehreren Sichten und über einige Jahrzehnte hinweg seine Geschichte erzählt, muss ich ihm Nachhinein sagen, dass es an einigen Stellen fast schon zu lang war, insbesondere am Anfang hat mich das eher irritiert, als dass ich gut in die Geschichte reingefunden habe.

»Ein wenig Leben« ist ein Buch, das mich unfassbar mit seinen Charakteren hat mitfühlen lassen, so sehr wie kaum ein anderes Buch zuvor. Es war eine harte Geschichte, sehr ehrlich und schonungslos erzählt und wie gesagt, man muss definitiv in der richtigen Stimmung für diese Art von Geschichte sein. Verstehe ich warum so viele Leute es in den Himmel loben? Ein Stück weit schon. Dieses Buch wird mir definitiv in Erinnerung bleiben. Aber auf der anderen Seite war es glaube ich einfach nicht meine Art von Geschichte. »Ein wenig Leben« ist ein eindrucksvolles Buch, keine Frage und ich bin froh es gelesen zu haben und endlich zu wissen, was dahinter steckt, aber gleichzeitig war ich eben auch sehr froh, als ich die letzte Seite umgeschlagen habe und es zurück ins Regal stellen konnte.

Autor/in: Hanya Yanagihara
Seiten: 960
Verlag: Piper
Sprache: Deutsch
Reihe: –
Hallo Katharina,
wow, das ist eine sehr ausführliche Rezension, die ich wahnsinnig gerne gelesen habe. Ich selbst habe “Ein wenig Leben” gelesen und schreibe gerade an der Rezension und ich muss sagen, da sind sehr viele Parallele zwischen unseren Meinungen. Ich fand es auch sehr aufwühlend und ich musste auch an mehreren Stellen weinen, besonders über die tollen Menschen, die Jude in seinem Leben trifft die ihn lieben. Da hätte ich mir irgendwie doch ein bisschen mehr Impakt gewünscht, denn auch wenn Jude wirklich eine sehr schlimme Kindheit hatte, so hat er doch auch so tolle und besondere Menschen kennengelernt. Da hätte ich mir gewünscht, dass diese ihm auch irgendwie weiter helfen, was sie zwar bis zu einem gewissen Punkt auch machen, aber eben nicht so, dass Jude aus seiner Spirale herauskommt.
Nach der Rezension werde ich mir auf jeden Fall noch ein paar weitere Rezensionen von dir durchlesen!
Liebe Grüße
Mona
Liebe Mona,
es freut mich, dass die Rezension dir gefallen hat 🙂 Irgendwie war es ja doch nicht so leicht über dieses Buch zu sprechen, beziehungsweise fand ich es einfach schwierig in Worte zu fassen.
Mich hat es immer wieder traurig gemacht, dass Jude zwar all diese wundervollen Menschen um sich herum hat, die ihn lieben, aber er sie einfach nie so wirklich hundertprozentig an sich heranlässt.
Liebe Grüße,
Katharina
Das Buch ist eine langfädige Darstellung von Männerbeziehungen, wie sie sich Frauen vorstellen. Es hat nichts mit der Realität zu tun!
Seit einigen Jahren haben sich Frauen in den Bereich Jugendbücher für schwule Jungs gemischelt. Das genau gleiche Desaster.
Frauengefühle und -beziehungen lassen sich nicht über Männerbeziehungen stülpen. Vor allem wenn ihre Eifersucht und Dominanz Schwulen gegenüber völlig ausgeblendet werden.
Ich denke, das Buch ist ein schönes Bad für “Frauen, die es schon immer genauer wissen wollten.”